Soziale Innovation als wissenschaftliches Konzept und Gegenstand von FTI-Strategien in der EU
Bereich: Management & projektübergreifende Tätigkeiten
Soziale Innovation als wissenschaftliches Konzept und Gegenstand von FTI-Strategien in der EU
Josef Hochgerner, ZSI
In der gesellschaftlichen Entwicklung gab es schon oft sehr wesentliche soziale Innovationen, z.B. von der Attischen Demokratie über die Einführung der Unterrichtspflicht bis zu den tragenden Säulen des modernen Sozialstaats. Dennoch scheint das Thema ‚soziale Innovation‘ erst im Kontext der aktuellen Großkrisen ‚entdeckt‘ worden zu sein: Besonders seit 2009 gibt es sprunghaft steigendes Interesse daran in öffentlichen Debatten, zahlreiche Institutionen in vielen Ländern befassen sich damit, Fonds werden geschaffen und Gründerzentren für soziale Innovation gefordert und gefördert. In offiziellen Regierungsdokumenten diverser EU Mitgliedsländer finden sich Erklärungen zur Bedeutung sozialer Innovationen[1] ebenso wie in der EU ‚Flagship Initiative’ Innovationsunion[2]. Begonnen hat die intensive Auseinandersetzung mit der Thematik auf europäischer Ebene im Kontext der „Neuen Sozialagenda“ 2008[3], und der zur selben Zeit von der DG Enterprise and Industry initiierten Vorschau auf die zukünftige europäische Innovationspolitik[4]. 2010 wurde der sogenannte BEPA-Report[5] publiziert, 2011 die europaweite Pilot-Aktion „Social Innovation Europe“[6] gestartet und soziale Innovation erstmals als research topic im 7. EU Forschungsrahmenprogramm ausgeschrieben.
Trotz der Popularität des Themas ist aber Unsicherheit darüber verbreitet, was soziale Innovationen sind, wie sie entstehen und was von ihnen erwartet werden kann. Dazu zu forschen, zu lehren und in der Praxis soziale Innovationen zu unterstützen wird umso wichtiger, je drängender die sogenannten „großen Herausforderungen“ (von Armut, Ausgrenzung, alternder Gesellschaft, Finanzialisierung und Klimawandel bis zu Migration und sozialen Konflikten) werden. Die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen des 21. Jahrhunderts stellen über die Wirtschaft hinausweisende Anforderungen an die Analyse und Implementierung von Innovationen im Allgemeinen, und von sozialen Innovationen im Besonderen.
Soziale Innovationen sind Teil des kulturellen und sozialen Wandels, die eben in Zeiten von Krisen besondere Bedeutung gewinnen. Fortschreitende Technisierung und Globalisierung evozieren zusätzlichen Bedarf an gezielten Maßnahmen zur Gestaltung sozialer Prozesse, und zwar in öffentlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Sektoren. Individuelles Verhalten in informellen Netzwerken kann ebenso sozial innovativ sein wie Organisationsentwicklung oder Konfliktlösung in Betrieben, Diversity Management, neue Lehr- und Lernformen im Bildungswesen oder systemische Veränderungen im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht. Es kann sich um neue Beteiligungs- bzw. Entscheidungsregeln in sozialen Systemen oder soziale Vorsorge handeln.
So wie technische Erfindungen erst als Innovationen gelten wenn Produkte und Verfahren marktfähig werden und Verbreitung finden, müssen soziale Innovationen Nutzen für Zielgruppen erbringen. Auf soziale Entwicklungen zielende Ideen werden zu sozialen Innovationen, wenn sie besser wirken als andere oder ältere Praktiken, daher gesellschaftliche Akzeptanz finden und genutzt werden. Wenn durch Anwendung und Verbreitung aus einer sozialen Idee eine soziale Innovation wird, trägt diese zur Bewältigung konkreter Problemstellungen oder zur Befriedigung eines in der Gesellschaft vorhandenen Bedürfnisses bei, das neu sein oder schon lange bestehen kann.
In Anlehnung an die berühmte Kurzformel von J.A. Schumpeter, der 1912 Innovationen als „neue Kombinationen von Produktionsfaktoren“ charakterisierte, können soziale Innovationen als „neue Kombinationen von sozialen Praktiken“ aufgefasst werden. Analytisch genauer definiert sind soziale Innovationen neue Praktiken zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, die von betroffenen Personen, Gruppen und Organisationen angenommen und genutzt werden.
Bei der Bestimmung der spezifischen Eigenschaften von sozialen Innovationen geht es nicht um eine Abgrenzung vom allgemeinen Innovationsbegriff, sondern um dessen Erweiterung. Soziale Innovationen können von technischen Innovationen (Produkten oder Prozessinnovationen) zwar unterschieden werden, weil sie anstelle oder neben wirtschaftlichen Erträgen „sozialen Mehrwert“ bzw. neue „soziale Tatsachen“ schaffen. Aber die Grundcharakteristik von Innovation gilt hier wie dort, nämlich dass es sich um die erfolgreiche Realisierung einer Idee handelt, die in der Praxis wirksam wird, unabhängig davon ob es sich dabei um wirtschaftliche oder – im weiteren Sinn – gesellschaftliche Aktivitäten und Interessen handelt.
[1] Für Österreich s. die FTI-Strategie der Bundesregierung von 2011: http://www.bmvit.gv.at/innovation/publikationen/fti_strategie.html
[4] Business panel on future EU innovation policy: Reinvent Europe through innovation: From a knowledge society to an innovation society. http://ec.europa.eu/enterprise/policies/innovation/files/panel_report_en.pdf
[5] Hubert, Agnès et al., 2010: Empowering people, driving change: Social innovation in the EU. BEPA (Bureau of European Policy Advisers). http://ec.europa.eu/bepa/pdf/publications_pdf/social_innovation.pdf
AutorInnen: Hochgerner (external Senior Advisor), J.
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Tags: businesses, research and innovation policy, social innovation, theory
Kategorie: Vorträge
Publikations Datum: 2013
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